Radfahren in der Vierten Dimension
Ingrid Krenz
ADFC-Bezirksgruppe Harburg, LV HamburgNeulich hatte der Leiter des Amtes für Bodendenkmalpflege unter anderem mich als ADFC-Vertreterin eingeladen, um die Neugestaltung der Radwege in Harburg zu erörtern. Es scheint nicht allgemein bekannt zu sein, daß die Radwege in das Ressort der Bodendenkmalpflege fallen. Die meisten Radwege in Hamburg sind noch asphaltiert, nämlich die mit den rot-weißen Kanten, und, was das entscheidende ist, sie existierten lange bevor der französische Ingenieur A. Merian 1854 die erste gewalzte Asphaltstraße anlegen liess. Die Hamburger Radfahrer wissen den geschichtsträchtigen Boden, auf dem sie sich bewegen, gar nicht zu schätzen, sondern fluchen bloß über die ,Hubbel`. Herr Dr. Katzenkopf, der Amtsleiter, hat auf dem Gebiet des Straßenbaus im 9. und 10. Jahrhundert promoviert und die Leiterin der Abteilung Radwegebau, Frau Dr. Hinschmiss über frühe englische Schienenwege. Sie sind stets bestrebt, ihr historisches Wissen nicht bloße Theorie bleiben zu lassen.
Frau Dr. Hinschmiss begrüßte uns und eröffnete uns, daß die Auffahrten der Alten Süderelbbrücke mit einem dem historischen Gesamtbild entsprechenden Pflaster gestaltet werden sollen. Sie legte uns Muster vor. ,,Diese, dem wertvollen alten Pflaster nachempfundenen Steine werden im Verlauf der ehemaligen Straßenbahngeleise in Längsrichtung verlegt werden, so daß dieser Belag eindeutig als typisch hamburgischer Radweg erkennbar ist.'' Ich legte zwei der stark abgeschrägten Steine nebeneinander, und an der Ansatzstelle ergab sich eine gut 3 cm breite und etwa 2 cm tiefe Rille. Die Vertreterin der Blumen-Fraktion war begeistert: ,, Endlich werden wir diesen langweiligen Asphalt los!''. Ich wandte ein: ,,In solchen Rillen kann kein Radfahrer fahren. Das Pflaster erfüllt nicht die Anforderung eines sicheren Belages.''
Doch Frau Dr. Hinschmiss war nicht zu bremsen. ,,Es geht überhaupt nicht darum, ob Radfahrer, noch dazu Sie von der Rennfahrer-Fraktion, darauf fahren können, sondern um das historische Erscheinungsbild. Wir möchten, dass die StraßenbenutzerInnen eine visuelle Vorstellung davon bekommen, was für Fahrzeuge einst diese Straße, und speziell diese Brücke befahren haben. In der Neuen Straße1 sehen Sie unsere Vorstellungen schon voll verwirklicht. In unseren Augen erfüllt der Radfahrer/die Radfahrerin die idealen Voraussetzungen dafür. Im Gegensatz zum Autofahrer/zur Autofahrerin, der/die sich auf weitestgehend genormten Fahrbahnen bewegt, wirkt auf den Radfahrer/die Radfahrerin physisch und psychisch das Medium ein, auf dem er/sie fährt. Radfahren kann und soll aufrüttelnd sein, der Radfahrer/die Radfahrerin soll ganz bewußt die zahlreichen möglichen Arten von Boden, Pflaster und Einbauten mit allen Sinnen wahrnehmen können, und es sollen dem Radfahrer/der Radfahrerin alle paar Meter neue Aus- und Einblicke möglich sein. So wird die Entwicklung des Wegebaus von der Frühzeit bis in die Postmoderne unmittelbar erfahrbar und die Gegenwart aus der Geschichte heraus begreifbar. Außerdem gibt es keine anderen Steine in dieser Farbe.''
Der Vertreter der Linksbürgerlichen holte zur Entgegnung aus: ,,Sie sollten bedenken, daß ein Weg, der seiner Bestimmung nach ein Fahrweg ist, noch dazu einer für einspurige Fahrzeuge mit relativ schmalen Reifen, keine Rillen im Belag haben darf, wo es doch bekannt ist, dass man ein Fahrrad dadurch sehr leicht zu Fall bringen kann. Sind Sie schon mal in einer Eisenbahnschiene Rad gefahren?'' Das hätte er nicht sagen dürfen. Frau Dr. Hinschmiss schlug mit den Ausführungsbestimmungen der Freien und Hansestadt Hamburg zur 24. Novelle der StVO, immerhin 50 Seiten stark mit Pappband, auf ihn ein. Unter Protest verließen der Linksbürger und ich die Sitzung. Vor dem Dienstgebäude wären wir beinahe in den frischen Kuhfladen ausgerutscht, die die Zugtiere des Dienstkarrens von Frau Dr. Hinschmiss hinterlassen hatten. Abends fragte ich meinen alten Bekannten Franz, der aus Prag zu Besuch war, ob er nicht eine Satire über die Sache schreiben möchte. Er lehnte ab: ,, Ich würde meinen Ruf als Schriftsteller gefährden, wenn ich so etwas Absurdes veröffentlichte. Müssen etwa Binnenschiffer sich mit der Frage auseinandersetzen, ob in einen Kanal Wasser oder Geröll gefüllt wird?''
1 Auf dieser Straße fallen einem die Augäpfel heraus, auch auf einem vollgefederten Rad
1. 9. 1998, Ingrid Krenz